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Interview mit George I. Abdallah
Liebe GenossInnen, ich freue mich sehr, von euch zu hören und eure Neuigkeiten zu lesen. Ich habe eure Post während des letzten Monats erhalten. Mit großer Aufmerksamkeit habe ich die Fragen und Kommentare gelesen. In diesem Brief werde ich mich dem ersten Teil der Fragen widmen und über meine Situation sprechen, allgemein gesehen über die Situation der revolutionären Gefangenen in diesem Land... und über Strafmilderungen […].
Ich bin zu lebenslanger Haft, davon 15 Jahre Sicherungsverwahrung, verurteilt, und kann legal nach Ablauf des 15. Jahres seit Haftantritt, das heißt in meinem Fall seit Oktober 1999, entlassen werden. Nach Jahren der Sicherungsverwahrung eines militanten Revolutionärs, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wird die „Entlassung“ eher zu einer administrativen als einer gerichtlichen Maßnahme. Wohlgemerkt präsentiert sich diese Maßnahme, so der Staat will, in einer besonderen Form. Es gibt immer einen Gerichtshof und einen Richter; eine Zeremonie, die nach einer widersprüchlichen Debatte, den Anwaltsplädoyers und einer Beratung schlussendlich glauben lässt, es sei eine gerichtliche Entscheidung gefällt worden…Doch die ganze Zeremonie ist nur Schein; ihr wurde lediglich ein passender Rahmen gegeben. Heute findet das Ganze zentralisiert in Paris statt, unter Leitung eines Verwaltungsbeamten, der gleichzeitig Präsident des Vollstreckungsgerichts von Paris ist und sich in der Materie des „Terrorismus“ gut auskennt. Man muss dazu sagen, dass die Situation nicht immer so war. Obwohl die Gerichtsverhandlung in Frankreich seit dem Jahr 1986 von einem speziellen Schwurgericht durchgeführt wurde, an dem nur professionelle Verwaltungsbeamte teilnahmen (so enthielt sie keine Jury), wurden die Akten von politischen Gefangenen (sprich: Terroristen) weder in Paris zentralisiert noch von einem einzelnen Vollstreckungsrichter verwaltet. So wurde mir am 19. November 2003 auf lokaler Ebene vom Verwaltungsgericht von Pau (Frankreich) die bedingte Haftentlassung zugesprochen. Allerdings wurde diese Entscheidung am 16. Januar 2004 auf Geheiß der Staatsanwaltschaft (auf Regierungsebene) entkräftet. Die nationale Rechtsprechung berief sich dabei auf die Argumente der Staatsanwaltschaft (d.h.: der Regierung), die den regionalen Richtern vorwarf, „nicht beachten zu wollen, dass die Entlassung dieses Verurteilten als Provokation für Frankreich, die Vereinigten Staaten und Israel aufgefasst werden könnte, und das auch noch, obwohl die Situation im Nahen Osten keineswegs entspannt ist.“ Um zu vermeiden, dass eine Provinzverwaltung, sich selbst zu wichtig nehmend, dazu kommt, bestimmte Fälle ohne hinreichende Rücksicht auf die politischen und Regierungsangelegenheiten zu bearbeiten, hat man ein passendes Gesetz erlassen, um nun all diese Fälle in Paris zu zentralisieren und einem einzelnen Verwaltungsbeamten zu unterstellen. Letzterer fungiert als Vollstreckungsrichter und als Vorsitzender des Vollstreckungsgerichts. Und selbstverständlich folgt er peinlich genau den Anweisungen von höchster Stelle.
Während seiner Inhaftierung unterliegt der politische Gefangene einer besonderen Behandlung, in erster Linie darauf ausgerichtet, alles, was mit dem politischen Kampf zu tun hat, zu kriminalisieren. Die repressiven Gesetze und die präventive Konterrevolution greifen in dem gleichen Maße um sich, wie die Krise sich immer ausweitet und der Widerstand gegen diese zunimmt. Es erscheint nur natürlich, diese Gesetze rückwirkend anzuwenden, insbesondere, wenn es um Gefangene geht, die sich widersetzen. Genossinnen und Genossen, man muss sich immer dessen bewusst sein, dass die Individualisierung und die Kriminalisierung immer zusammen gehen, von Anfang bis Ende der Haft. Bevor man einen politischen Gefangenen als Verbrecher präsentiert und genauso behandelt, muss man zunächst seine politische Identität zerstören. Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt sich die bürgerliche Justiz nicht darauf, jede kollektive Identität zu leugnen; nein, sie muss unbedingt erreichen, dass der politische Gefangene sie selbst leugnet und somit zur Zerstörung des kollektiven politischen Willen und der kollektiven Erinnerung beiträgt. Sie muss den politischen Gefangenen (Protagonisten eines revolutionären Kampfes, einen Widerstandskämpfer) durch einen reuevollen Kriminellen ersetzen. Nur durch diesen Prozess können die Schritte eingeleitet werden, die eine vorzeitige Entlassung ermöglichen könnten. So kann die Bourgeoisie Tag für Tag verkünden: „Es gibt in einer Demokratie keine politischen Gefangenen und es kann keine geben; es gibt nur gefährliche Kriminelle und Terroristen…“, „In unserer Demokratie werden keine militanten Kämpfer für ihre Überzeugungen eingesperrt…sondern es werden Terroristen, diese hoffnungslosen Kriminellen, neutralisiert.“
Es ist absolut notwendig, dass der politische Gefangene an der Negation seiner Identität und der Entpolitisierung seiner vergangenen Aktionen teilnimmt, um diese schlussendlich zu kriminalisieren. So kommt es dann, dass wenn der politische Gefangene den oben erwähnten Prozess nicht unterstützt, ihm die Chance auf Entlassung verweigert wird. Man erinnert ihn daran, dass „er seine politischen Überzeugungen nicht aufgegeben hat und sein Engagement geltend bleibt“, „Er besteht darauf, die Taten, derer er beschuldigt wird, weiterhin als Akte des Widerstands zu bezeichnen...“ Und deshalb „kann ihn die Stärke seiner Überzeugung und seines Engagements – wenn sich der politische Kontext bietet – wieder in einen entschlossenen und unversöhnlichen Aktivisten verwandeln...“ Und in der gegenwärtigen Situation, da das Verhältnis zwischen revolutionären Kräften und der Konterrevolution so ist, wie es ist, kann man nichts anderes erwarten, als dass die Entscheidung über eine Entlassung negativ ausfallen muss.
In einer Ansprache, adressiert an die GenossInnen anlässlich einer Solidaritätskampagne vor der Lannemezan-Zentrale 2006, sagen J.M. Rouillan und ich:
„Um auf Befreiung zu hoffen […], muss der Inhaftierte seine Vereinzelung bis zum Ende treiben, seine früheren Taten und ehemaligen GenossInnen verunglimpfen …
[…] in den letzten Jahren sind es nicht mehr unsere Organisationen, in den wir gekämpft haben,die sie drankriegen wollen, denn oft existieren diese gar nicht mehr; es ist unser Kollektivitätssinn und ein Teil des revolutionären internationalistischen Erbes, den sie uns entreißen wollen. Das Ziel ist es, die Versuche kämpferischer Praxis auszulöschen, die sich seit zwei Jahrzehnten in der Europäischen Zone und dem Mittleren Orient entwickelt hat...“
Auf diese Weise, Genossinnen und Genossen, hat die imperialistische Justiz dieses Landes meine vorherigen Anträge auf Entlassung wiederholt zurückgewiesen, vor sich die Fahne des Terrorismus herschwenkend, was als eine bequeme rechtliche Abkürzung dient. Man muss sagen, dass ab dem Moment, wo das Kräftegleichgewicht für uns ungünstig ist, der Niedertracht keine Grenzen gesetzt sind. Ebendieses Kräfteverhältnis hat es bisher erlaubt, alle Anträge auf Entlassung abzulehnen; man kommt nicht umhin, folgende Tatsache klar zu benennen: Solange der Häftling sich nicht gegen seine Überzeugung ausspricht und auf welche Weise auch immer seinen Kampfgeist präsentiert, wird sein Antrag auf Entlassung prinzipiell abgelehnt; insbesondere dann, wenn Maßnahmen zu seiner Überwachung und Kontrolle eingeleitet werden sollen, jedoch an dem Ort, an dem er leben und arbeiten soll, nicht gewährleistet werden können (zum Beispiel im Falle eines ausländischen Militanten, dessen Entlassung immer mit Abschiebung in sein Herkunftsland verbunden ist).
GenossInnen, ihr müsst wissen, dass in dem Moment, in dem die bürgerliche Justiz die politische Identität eines revolutionären Gefangenen zerstört, sucht sie nach Mitteln, die gesamte kritische Auseinandersetzung mit dem Kampf dessen zu verhindern und zu kriminalisieren. Man will unbedingt alles zerstören, was der kollektive revolutionäre Kampf hervorgebracht hat. Man will alle Verbindungen, die in den verschiedensten Kämpfen - von der internationalistischen revolutionären Linken geführt – geschaffen wurden, vernichten und ebenso die globale Dynamik, die durch den weltweiten antiimperialistischen Widerstand entstanden ist, zunichte machen.
Eine kleine Geschichte, GenossInnen: Es waren fast 11 Monate offenen Vollzugs (kaum ein Monat bis dessen Beendigung), als er auf die Frage eines Journalisten antwortete: „Man hat mir verboten, über meine Vergangenheit zu sprechen, außer um sie zu verunglimpfen.“ Diese kurze „unglückliche“ Antwort brachte Jean Marc Rouillan ein Jahr Gefangnisstrafe ein...und ja, GenossInnen, die politische Identität und die Erinnerung an Kämpfe sind aufs Engste miteinander verbunden und die bürgerliche Justiz kann weder das Eine noch das Andere tolerieren. Beide müssen unwiederbringlich ausgelöscht werden. Dies ist der Grund, warum einem politischen Gefangenen, der sich in Haft wie ein Revolutionär verhält, jede Strafmilderung verwehrt bleiben wird. Diese Art von Behandlung wird sich genau so lange fortsetzen, wie die Gefangenen sich weigern, die von den Herrschenden für sie vorgesehene Rolle einzunehmen: Eine Marionette im Dienst der konterrevolutionären Propaganda!Und insoweit, dass das Kräfteverhältnis für einen unvorteilhaft ist, beeinflusst die Mobilisierung für eine Solidaritätskampagne die Dynamik der laufenden Kämpfe eventuell nicht positiv. Nur von dem Augenblick an, wenn die verschiedenen Solidaritätsinitiativen sich entfalten und auf dem Terrain des antikapitalistischen Kampfes an Stärke gewinnen, erweisen sich all die über die Jahre erprobten Repressionsmaßnahmen der Behörden gegen die revolutionären Gefangenen als unwirksam und ungeeignet. In dieser neuen Situation erkennt die bürgerliche Justiz (Richter und andere Handlanger der Repression), dass Inhaftierung auf unbestimmte Zeit und all die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die revolutionären Gefangenen zunehmend kontraproduktiv werden. Und in diesem Moment entscheiden sie sich, Maßnahmen der Strafmilderung einzuleiten, die in der „bedingten“ Haftentlassung der inhaftierten GenossInnen münden...
Ich halte hier an und hebe den Rest für das nächste Schreiben in nächster Zeit auf.
Meine revolutionären Grüße an euch alle.
Gemeinsam, GenossInnen, und nur gemeinsam werden wir siegen.
Euer Genosse Georges
Montag, 22. Oktober 2012