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Latife Adigüzel
„Das türkische Regime und sein Unterdrückungsapparat muss als terroristische Vereinigung betrachtet werden“
Gestern wurde der Prozeß gegen Latife Adigüzel vor dem OLG Düsseldorf
fortgesetzt. Sie verlas eine persönliche Erklärung und RA Meister einen
Antrag auf Einstellung des Verfahrens. In diesem setzte er die
offensive politische Prozeßstrategie fort. Diese zielt darauf ab zu
belegen, daß nicht die Widerstandskämpfer in der Türkei Terroristen
sind und schon gar nicht Mitglieder des migrantischen Kulturvereins
“Anatolische Föderation”, sondern daß die türkische Regierung selbst
eine terroristische Vereinigung ist.
Die Faktenlage ist angesichts des blutigen Krieges des Erdoganregimes
gegen die Kurden und seiner offenen Unterstützung des Islamischen
Staates und generell des reaktionären Islamismus eindeutig und man
sollte meinen, daß ein angeblich sich zu Demokratie, Grundgesetz und
Menschenrechten bekennendes Obergericht entsprechend positionieren
sollte. Dem steht jedoch entgegen, daß die Bundesregierung die Türkei
als Schlüsselland zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen ansieht und
nach wie vor die Türkei als strategischen Verbündeten im
imperialistischen Ringen um die Resourcen des Nahen Osten betrachtet.
Die Lage ähnelt derjenigen in Palästina: Obwohl es keinen Zweifel daran
gibt, daß das zionistische Gebilde ein rassistisches Kolonialregime
ist, wird seine Unterstützung zur deutschen Staatsraison erklärt und
die palästinensischen Widerstandskämpfer zu Terroristen.
Das bedeutet, daß ein Obergericht sich kaum auf Konfrontationskurs mit
Bundesregierung, USA, NATO und Erdogan begeben wird. Insofern wird der
politisch gut begründete Antrag der Verteidigung ohne Zweifel
abgewiesen werden. Doch es ist möglich den politischen Preis
hochzutreiben, indem man das Gericht zwingt, sich offen zum
faschistischen, antidemokratischen, islamistischen Erdoganregime zu
bekennen und so sein angebliches Wirken für grundgesetzlich fixierte
Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie und
Menschenrechte lächerlich werden zu lassen.
Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens
In dem Strafverfahren ./. Latife Cenan-Adigüzel
ist nach Ansicht der Verteidigung das Verfahren einzustellen und der
Haftbefehl aufzuheben, da es zumindest nach heutigem Stand an der
Verfahrensvoraussetzung einer rechtsstaatlichenAnforderungen
entsprechenden Ermächtigung zur Strafverfolgung durch das
Bundesministerium für Justiz (BMJ) mangelt. Zumindest ist nach Ansicht
der Verteidigung das Verfahren auszusetzen und sich von Amts wegen
seitens des Gerichtes an das Bundesministerium der Justiz zu wenden,
damit dieses in eine entsprechende Überprüfung aufgrund der aktuellen
Entwicklung eintritt.
Die dem Gericht vorliegende Ermächtigung ist nichtig, da ihr ein
weitgehender Ermessensfehler zugrunde liegt, da insbesondere
menschenrechtliche und völkerrechtliche Aspekte nicht beachtet wurden
und das Bundesministerium der Justiz einseitig Ausführungen der
Bundesanwaltschaft und der türkischen Regierung gefolgt ist. Selbst
wenn man davon ausgeht, dass sie seinerzeit bei Erteilung noch nicht
nichtig war, ist dies inzwischen aufgrund der weiteren Entwicklung in
der Türkei der Fall. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist das
Bundesministerium für Justiz verpflichtet, diese Ermächtigung umgehend
zurückzunehmen.
Die Ermächtigung berücksichtigt nicht die gesellschaftliche Realität in
der Türkei und die kontinuierlichen staatlichen Gewaltakte gegen die
demokratische Opposition, die kritischen Medien und die Minderheiten,
insbesondere die kurdische Bevölkerung. Das jahrzehntelange Leid und
die gravierenden Menschenrechtsverletzungen bis hin zu extralegalen
Hinrichtungen und Folter haben inzwischen eine solche Qualität
erreicht, dass das Verhalten des türkischen Staates als
staatsterroristisch qualifiziert werden muss, bzw. das türkische Regime
und sein Unterdrückungsapparat selbst als terroristische Vereinigung
betrachtet werden muss. Eine Aufrechterhaltung der Ermächtigung würde
daher objektiv auch eine Unterstützung eines terroristischen Regimes
bedeuten.
Die kontinuierlich schwersten und sich weiter steigenden
Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen des türkischen Regimes
sind unserer Ansicht nach ausreichend durch Zitate von Urteilen von
europäischen und deutschen Gerichten, Berichten von Amnesty
International und weiterer Menschenrechtsorganisationen,
Expertengutachten und Zeitungsartikeln belegt. Besonders erwähnt sei
auch die systematische Verfolgung – bis hin zu extralegalen
Hinrichtungen – gegenüber gewählten Politikern, Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälten und Journalisten.
Offensichtlich werden rechtsstaatliche Grundsätze durch die
Bundesregierung und das ihr unterstehende Bundesjustizministerium
ignoriert und die erteilte Ermächtigung als Mittel der Politisierung
und Instrumentalisierung der Strafjustiz benutzt und die
strafrechtliche Verfolgung strategischen und außenpolitischen
Interessen unterstellt.
Seit Juli 2015 hat die türkische Regierung Friedensgespräche mit dem
politischen Repräsentanten der kurdischen Bewegung, Abdullah Öcalan,
abgebrochen und es herrscht mit zunehmender Gewalt Krieg im Südosten
der Türkei/Nordkurdistan. Was teilweise als Bürgerkrieg in den
deutschen Medien dargestellt wird, ist in Wahrheit ein Angriff des
türkischen Militärs gegen die kurdische Bevölkerung mit allen Mitteln.
Seit Monaten werden die kurdischen Städte in Nordkurdistan mit schweren
Kriegswaffen belagert. Mit Panzern, Kampfhubschraubern, einem breiten
Aufgebot von Soldaten, Spezialkräften und Polizisten greifen die
türkischen Kampfeinheiten die kurdische Zivilbevölkerung in mehr als 17
Ortschaften an. Eine totale Ausgangssperre ist über diese Orte verhängt
worden.
Bis Ende Januar 2016 fielen den Angriffen von Militär und Polizei über
600 Menschen zum Opfer mit permanent ansteigender Zahl. Allein drei
Anschläge des faschistischen IS in die die türkische Regierung und ihr
Geheimdienst verwickelt sind in Diyarbakir, Suruc und Ankara kostete
138 Menschen das Leben und 929 wurden verletzt. Ziel der Attentate sind
Versammlungen und Demonstrationen der Opposition. Zahlreiche
Politikerinnen und Politiker der Opposition sowie Journalistinnen und
Journalisten, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wurden in Haft
genommen worden.
Systematisch wird weiter gefoltert. Sie wurde jetzt in den
Internierungslagern, Gefängnissen und Militärbaracken weiter ausgedehnt
und verschärft. Während der ersten elf Monate des Jahres 2015 wurde
über 560 Fälle von Folter berichtet, ohne dass die Folterer zur
Rechenschaft gezogen würden.
Es ist eine Provokation, dass ein Staat, der um die Aufnahme in die EU
nachsucht, gleichzeitig die demokratische Opposition und Minderheiten
in seinen Grenzen mit Gewalt und Krieg bekämpft. Am Vormittag des 28.
November 2015 wurde Tahir Elçi, Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer
von Diyarbakir, durch die Schüsse der türkischen Polizei ermordet. In
einer Erklärung der HDP heißt es dazu, dass die Regierung und die ihr
nahestehenden Medien in jüngster Vergangenheit eine Lynchkampagne gegen
Elçi geführt hätten. “Weil sie seine Gedanken und seinen Kampf nicht
ertragen konnten, haben sie mit diesem Mord ihn zum Schweigen bringen
wollen”, so die HDP. Elçi hatte Mitte Oktober 2015 bei der Politsendung
“Tarafsiz Bölge” des Senders CNN Türk vor laufenden Kameras erklärt,
dass die PKK keine Terrororganisation sei. Daraufhin wurde er durch die
türkische Regierungspartei und ihr nahestehende Medien zur öffentlichen
Zielscheibe gemacht. Während gegen Elçi ein Verfahren mit einer
Haftforderung von bis zu 7,5 Jahren eröffnet werden sollte, wurde dem
Femsehsender CNN Türk eine Geldbuße von 700.000 TL (ca. 225.000 Euro)
verhängt. Nur zur Unterstreichung unseres Antrages sei nachfolgend noch
ein Auszug aus einer Urgent
Action von ai vom 26.1. 2016 zitiert:
„ UA-023/2016, Index: EUR 44/3322/2016, 26, Januar 2016
Etwa 24 verletzte Menschen sitzen im Keller eines Gebäudes in Cizre in
der Provinz Sirnak im Südosten der Türkei fest. Einige von ihnen sind
schwer verletzt und benötigen dringend medizinische Versorgung. Vier
Personen sollen bereits infolge ihrer Verletzungen gestorben sein. In
Cizre gilt seit dem 14. Dezember 2015 eine ganztägige Ausgangssperre
aufgrund von Operation der Sicherheitskräfte gegen die bewajfnete
Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (Yurtsever Devrimci Gençlik
Hareketi – YDG-H), die Jugendbewegung der Kurdischen Arbeiterpartei
(PKK). Für 13 Verletzte wurden beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte vorläufige Maßnahmen beantragt. Laut dem Rechtsbeistand,
der die Verletzten vertritt, weigern sich die Behörden aus
“Sicherheitsgründen”, Rettungsfahrzeugen die Erlaubnis zu erteilen, zu
den Betroffenen zu fahren. Das Gebäude befindet sich nur wenige Hundert
Meter von der Innenstadt von Cizre und medizinischen Einrichtungen
entfernt. Am 25. Januar wurde beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte im Namen von 13 Personen, die sich derzeit in dem Keller
des Gebäudes in Cizre befinden, ein Antrag eingereicht. Darin wurden
vorläufige Maßnahmen beantragt, mit denen die türkischen Behörden
verpflichtet werden, alle erforderlichen Schritte zu ergreifen, um die
dringend
benötigte medizinische Notfallversorgung zu gewährleisten. Die
Entscheidung des Gerichtshofs ist noch anhängig. Seit dem I8. Januar
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in fünf ähnlichen
Fällen bereits vorläufige Maßnahmen erlassen, mit denen die türkische
Regierung aufgefordert wurde, “alle ihnen möglichen Maßnahmen zu
ergreifen, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit der
Antragsteller zu schützen “. Laut ihren Rechtsbeiständen sind drei der
Antragsteller_innen, Serhat Altun, Hüseyin Paksoy und Cihan Karaman,
bereits an ihren Verletzungen gestorben, weil sie trotz der vorläufigen
Maßnahmen keine medizinische Notfallversorgung erhalten hatten. Amnesty
International hat Material erhalten, auf dem offenbar zu sehen ist, wie
am 20. Januar auf eine Gruppe von mehr als 20 Personen geschossen wird.
Die Gruppe hielt weiße Fahnen hoch und versuchte, verletzte Personen in
Holzkarren aus dem Stadtteil Curdi in ein Krankenhaus in Cizre zu
bringen. Mehrere Menschen erlitten Schussverletzungen, darunter auch
Refik Tekin, ein Journalist, der für den nationalen Fernsehsender IMC TV
arbeitet und der die Situation vor und wahrend des bewaffneten Angriffs
filmte.“
Latifes persönliche Erklärung
In der Strafsache gegen mich möchte ich über meine Verteidiger
ergänzend und fortführend zu meiner bereits abgegebenen Erklärung,
folgende weitere Erklärung abgeben:Zu meiner Person:
Ich bin in dem Dorf Bargini in Dersim geboren. Dort, wo ich geboren
wurde, werden die Kinder nach der Geburt nicht sofort angemeldet. Es
wird eine gewisse Zeit abgewartet, ob sie überhaupt überleben. Die
Anmeldung erfolgt dann, wenn ein Erwachsener in die Stadt geht und
dafür Zeit hat. Deswegen ist mein Geburtsdatum, 06.05.1966, nicht ganz
exakt. Es ist annähernd richtig.
Wie ich bereits erklärte, stamme ich aus einer alevitisch – kurdischen
Familie. Seit dem ich mich erinnern kann und selbst in der Zeit davor
wurden die Angehörigen meiner Familie, so wie die der anderen Familien
alevitisch-kurdischer Abstammung, durch den türkischen Staat
unterdrückt, verbannt, eingesperrt, gefoltert und ermordet.
1938 wurde durch den türkischen Staat unseren Geistlichen, die wir
„Dede“ nennen, befohlen, ihre langen Bärte, die sie aus religiöser
Überzeugung trugen, abzurasieren. Da sie sich dem widersetzten, wurde
ihre Tötung beschlossen und befohlen. So wurde mein Urgroßvater mit
seinen nahen Angehörigen und weiteren Verwandten an einer Stelle
außerhalb des Dorfes, die wir „Seke sur“ bezeichnen, welche damals als
Viehunterkunft diente, gebracht, dort am lebendigem Leibe verbrannt und
anschließend in einem Massengrab verscharrt.
Allein in der Umgebung von Dersim fanden an über 100 Orte ähnliche
Massaker statt. Viele, viele Tausende von Menschen, darunter Kinder,
Alte, Frauen, wurden ermordet. Viele der Massengräben sind bis heute
unentdeckt, da sich der türkische Staat weigert, Einblicke in die
Archive und Dokumente zu gewähren. Nach langen Auseinandersetzungen ist
uns erst vor kurzem gelungen, das Massengrab, in dem u.a. mein
Urgroßvater verschart wurde, in einer juristisch verwertbarer Akt
eröffnen zu lassen. Wie sie vielleicht wissen, ist der Glaube der
Aleviten sehr stark vom Humanismus und Universalismus bestimmt. lm
Zentrum des Glaubens steht daher der Mensch als eigenverantwortliches
Wesen und sein Verhältnis zu den Mitmenschen, gegenseitige Achtung und
Solidarität. Die Frauen sind gleichberechtigt und nicht verschleiert.
Auch heute werden sie keine alevitische Frau finden, die das vom Islam
geforderte Kopftuch trägt. In meiner Heimat lebten in den 1930er Jahren
rund 150.000 Aleviten, die vom türkischen Regime verächtlich als
“Kisilbasch” (Rotköpfe) bezeichnet wurden.
Die Geschichte der Türkei seit dem letzten Jahrhundert ist eine Kette
von Vernichtung und Völkermord, ohne dass die dafür Verantwortlichen
zur Rechenschaft gezogen wurden, oder die Geschichte aufgearbeitet
wurde. Sie findet so z.B. in den türkischen Geschichts- und
Schulbüchern nicht statt. Der Völkermord an den Armeniern 1915 wurde
als “Umsiedlung” bezeichnet, die Massaker an den kurdischen Aleviten in
Dersim 1937/38 als “Niederschlagung einer Rebellion gegen die
Modernisierung, Reform und Bildung einer modernen Türkei”. Wie beim
Völkermord an den Armeniern wird deshalb heute auch in diesem
Zusammenhang von einem Genozid gesprochen.
Wie sie wissen, folgten weitere Massaker mit Unterstützung des Staates
und in enger Zusammenarbeit mit faschistischen Kräften an den Aleviten:
Maras 1978, Corum 1980, Sivas 1993, Gazi in Istanbul 1995. Diese
Pogrome waren furchtbar, hatten aber nicht die Ausmaße eines Genozids
wie bei den Armeniern und den Aleviten 1937/38. Erinnern möchte ich an
dieser Stelle auch an die Pogrome an der griechischen Bevölkerung in
Istanbul im September 1955 und an den
Vernichtungskrieg der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung
in den 1980er und 1990er Jahren, der mit massiver Hilfe Deutschlands
stattfand. Heute erleben wir eine mehr oder weniger offensichtliche
Unterstützung des IS durch die Türkei, während gleichzeitig massive
Militäroperationen gegen die kurdischen Gebiete und eine weitgehende
Unterdrückung der demokratischen Opposition in der gesamten Türkei
stattfindet.
Es stimmt mich in kaum zu beschreibender Weise auch traurig, wie
ignorant das Gericht über diese Tatsachen hinweggeht und Gegenstand der
Bespitzelung und Kriminalisierung auch berechtigte Solidaritätsaktionen
sind – wie die Gezi Park Proteste – , oder Veranstaltungen der
alevitischen Glaubensgemeinschaft in Deutschland.
Es ist für mich unverständlich, warum sich ein deutsches Gericht vor
dem Hintergrund der deutschen Geschichte dafür hergeben kann und nicht
die Zivilcourage aufgebracht wird, dem zu widersprechen.
Wir Kinder sind jedenfalls mit Erzählungen unserer Großeltern über
diese Massaker groß geworden. Ich habe damals bereits verstanden, dass
die Forderung nach der gleichberechtigten Anerkennung der eigenen
Identität in der Türkei lebensgefährlich war. Ich verstand nur nicht
weshalb. Denn an meinem Dasein als Mensch empfand ich nichts
Gefährliches für Andere.
Viele Jahre wurden die Menschen gezwungen zu schweigen. Das änderte
sich erst ab Mitte/Ende der 196O’er Jahre. In dieser Zeit hatten sich
junge Menschen, überwiegend Studenten, unter dem Dach der Dev-Genc, der
revolutionären Jugend, zusammengeschlossen. Sie traten ein u.a. für
Gleichberechtigung aller Menschen, Selbstbestimmungsrecht der Völker,
menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen, das Recht auf Bildung,
medizinische Versorgung, auf eigene Sprache und Religion. Sie
solidarisierten sich mit Arbeiterstreiks, welche durch den neu
gegründeten Gewerkschaftsverband der revolutionären Arbeiter, DISK,
organisiert wurden, und kämpften gegen die zunehmenden Übergriffe der
Zivilfaschisten, die als verlängerter Arm des Staates brutal gegen alle
Andersdenkenden vorgingen.
In dem Schuljahr 1971-1972 sind wir in die Provinzstadt Elazig
umgezogen, da mein älterer Bruder die Mittlere Schule besuchen sollte
und Elazig am nächsten lag. Dort bin ich in dem gleichen Jahr
eingeschult worden. Wir wohnten in einem Stadtteil mit überwiegend
alevitisch-kurdischer Bevölkerung.
Das Militär hatte zum zweiten Mal nach 1960 geputscht. Der Putsch
diente zur Zerschlagung der linken Opposition. Alle Parteien,
Gewerkschaften und politische Organisationen darunter DISK, die
Lehrergewerkschaft TÖS und Dev-Genc wurden verboten. Tausende von
Menschen wurden inhaftiert, gefoltert und viele ermordet.
Einige Führer dieser Bewegungen wurden hingerichtet. Es gab überall
Ausgangsperren. Die Straßen waren voll mit bewaffneten Soldaten. In der
kurzen Zeit, in der wir ausgehen dürften, gab es so gut wie Nichts zu
kaufen, die wenigen Sachen, die es gab, waren für uns nicht bezahlbar,
da die Geschäfte aus der Not der Menschen ein Geschäft machten. Ich
erinnere mich noch ganz genau an diese angstvollen Hungertage. Ich habe
und werde sie nie vergessen.
In den elf Provinzen, die unter Kriegsrecht standen, führten
Militärgerichte Massenprozesse durch, um die vielen Angeklagten
aburteilen zu können. In Ankara waren in einem Prozess 226 Personen
angeklagt, an Aktionen der Jugendorganisation Dev-Geng teilgenommen zu
haben. Nach Schätzungen des Weltgewerkschaftsbunds wurden seit April
1971 mehr als 10.000 Menschen
verhaftet. Anwälte wurden selbst angeklagt, die gegen die Folterungen
protestiert hatten, da sie “die Verhandlung mit abenteuerlicher Taktik
aus der Richtung bringen wollten”. Folter wurde in Polizeizentren und
Zentren der als Kontra-Guerilla bekannten Einheiten des Geheimdienstes
und der Abteilung zur Besonderen Kriegsführung (tr: Özel Harp Dairesi,
ÖHD) durchgeführt. Kontraguerillakräfte sind bis heute aktiv.
lm Verlauf des bisherigen Prozesses – in dem ja auch dieser Zeitraum
angesprochen worden war – mußte ich mich doch immer wieder wundern, wie
systematisch seitens der Staatsanwaltschaft oder des BKA dies alles
schlichtweg ignoriert wurde und wird und mehr oder weniger Wertungen
der damaligen Militärdiktatur auch Eingang in das Verfahren gegen mich
nehmen.
Die überlebenden, nicht inhaftierten Menschen wurden gezwungen unter zu
tauchen und im Untergrund sich wieder neu zu formieren. Die Brutalität
dieses Putsches veränderte entscheidend die Art und Weise der
politischen Auseinandersetzung in der Türkei.
Nach der 3. Klasse nahm die politische Auseinandersetzung wieder zu.
Immer mehr Menschen, überwiegend Jugendliche, widersetzten sich gegen
die Repressalien des türkischen Staates. Der Staat schlug umso brutaler
zurück. Wieder waren die so genannten Zivilfaschisten, darunter auch
die Grauen Wölfe daran beteiligt.
Insbesondere in unserem Viertel wurden junge Leute immer wieder
attackiert, beschossen und erschossen. Immer wieder gab es
Polizeioperationen. Häuser wurden ohne Gerichtsbeschlüsse durchsucht,
Menschen einfach mitgenommen. Ich war noch ein Kind. Aber ich sah das
alles und erlebte es nahezu täglich. Obwohl ich noch keine politischen
Worte dafür kannte, wusste und spürte ich, dass es nicht richtig war,
was dort geschah. Wir Kinder konnten uns dem nicht entziehen, weil es
ein Teil unseres Lebens war. Somit waren wir Beteiligte.
Nach dem ein junger Erwachsener aus unserem Viertel erschossen wurde,
organisierten wir unsere erste Kinderdemostration. Danach wurde diese
Form der Meinungsäußerung ein fester, unabdingbarer Teil meines Lebens.
Seit dem nehme ich immer, wenn ich kann, an Demonstrationen teil
und/oder organisiere diese selbst, sofern die Inhalte wichtig und
zutreffend sind.
Unter diesen Bedingungen habe ich die Grundschule in Elazig beendet.
Danach entschieden sich meine Eltern aus Sorge um uns in den Westen der
Türkei zuziehen. Sie dachten im Westen gäbe es keine Vorfälle und die
Kinder könnten in Ruhe und Frieden die Schule besuchen. So sind wir
nach Izmir gezogen, wo seit längerer Zeit auch mein Onkel lebte.
Kurz nach unserem Umzug mussten sich meine Eltern jedoch von dieser
Illusion verabschieden. Auch hier gab es Auseinadersetzungen. Es gab
Streiks, es gab Demos und es gab die Übergriffe des Staates und der
Faschisten. Ich war jung und interessierte mich dafür. Ich wollte
wissen, weshalb diese Menschen immer wieder ihr Leben riskierten. So
nahm ich an Demonstrationen teil und las alles, was ich finden konnte,
höre zu, wenn Ältere darüber erzählten. In dieser Zeit habe ich zum
ersten Mal ein Theaterstück gesehen. Es waren junge Studenten. Sie
hatten bei uns auf der Straße ein Bettlaken aufgespannt und darauf
einen Baum gemalt und spielten „das Warten auf Godot“ von Samuel
Beckett. Als die Polizei heran rückte, nahmen sie ihr Bühnenbild ab und
zogen ein Paar Straßen weiter und spielten dort erneut. Ich habe es nie
vergessen.
In den Jahren 1977-1979 nahm die Intensität der politischen
Auseinandersetzung zu. Am 1. Mai 1977 eröffneten die Scharfschützen der
türkischen Kontraguerilla aus einem Hotel heraus das Feuer auf eine
Kundgebung von über einer halben Million Gewerkschafter in Istanbul und
ermordeten 38 Menschen. Auch an dem faschistischen Pogrom im Dezember
1978 in Maras, bei dem 107 Aleviten ermordet wurden, war die
Konterguerilla beteiligt. Auf Grund der zunehmen Übergriffe ging ein
Teil meiner Familie nach Deutschland. Ich blieb mit meinem jüngeren
Geschwister zurück und lebte bei meinen Großeltern.
Am 12. September 1980 putschten die Generale erneut und das Leben kam
zum Erliegen. Direkt nach dem Putsch verhängten die Mitglieder des so
genannten „nationalen Sicherheitsrats“, bestehend aus Generalstabschef
Kenan Evren und den Kommandierenden der Teilstreitkräfte das
Kriegsrecht über das ganze Land. Alle Parteien, Gewerkschaften, sowie
politische Organisationen wurden verboten. Das Parlament wurde
aufgelöst, über 200 Parlamentarier wurden verhaftet. Insbesondere gegen
Linke und Gewerkschafter begann eine massive, erbarmungslose
Verhaftungs- und Vernichtungswelle. Mein Verteidiger, Herr Rechtsanwalt
Roland Meister hat bereits in seinem Antrag am 2. Verhandlungstag die
Zahlen über die ungefähre Bilanz des Putsches zu den Akten gegeben.
Diese mache ich zum Gegenstand meiner Erklärung.
Unmittelbar nach dem Putsch begannen die Hinrichtungen von linken
Aktivisten. Am 9. Oktober 1980 wurde Necdet Adali hingerichtet. Erdal
Eren, ein Minderjähriger, wurde am13. Dezember 1980 mit 17 Jahren auf
Anordnung des „nationalen Sicherheitsrates“ hingerichtet, obwohl das
Todesurteil zwei Mal von der höheren Instanzen für Nichtig erklärt
worden war. Diese Hinrichtung kommentierte General Kenan Evren 4 Jahre
später in seiner Funktion als Staatspräsident mit den Worten „hätten
wir ihn, statt zu hängen, sein Leben lang durchfüttern sollen“. Dieser
Satz hat sich in das kollektive Gedächtnis von vielen Menschen, auch
von mir, eingebrannt.
Die wesentlichen Teile der damaligen anti-demokratisch totalitären
Verfassung, welche durch den nationalen Sicherheitsrat vorbereitet
wurde, sind heute noch Bestandteil der Verfassung der Türkei. Eine
Verfassung, die in jener Zeit entstand, für die Kenan Evren und Tahsin
Sahinkaya, auch Mitglied des nationalen Sicherheitsrats, 2014 wegen
Verbrechen gegen den Staat zur Lebenslangen Haft verurteilt wurden.
Auch meine Familie wurde durch den Putsch betroffen. Zwei meiner Onkel
wurden wegen ihrer politischen Einstellung für 8 bzw. 9 Jahre
eingesperrt. ln der Zeit, als ich noch in der Türkei lebte, habe ich
sie so oft es ging mit meinem Großvater besucht. Die Besuche waren
jedes Mal ein Tortur für uns Angehörige. Man ließ uns manchmal Stunden
lang vor dem Gefängnis warten. Bei den Durchsuchungen wurden wir, wie
viele andere Angehörige auch, beleidigt, beschimpft und geschlagen.
Manchmal wurden wir nach langem Warten ohne eine Begründung davon
gejagt.
In dieser Zeit entstanden viele Bekanntschaften unter den Angehörigen
der Gefangenen, da wir das gleiche Schicksal teilten. lch habe selbst
nach dem ich nach Deutschland kam, viele diese Bekanntschaften
gepflegt, habe ihnen regelmäßig geschrieben.
1981 wollten uns unsere Eltern nach Deutschland holen, da ein Leben als
alevitisch-kurdisches Mädchen in der Türkei nicht möglich war. Auf der
Straße wurden viele Mädchen und Frauen angegriffen, angepöbelt und zum
Teil vergewaltigt. Gerade für uns war es sehr gefährlich überhaupt die
Schule zu besuchen. Nach dem ich und einer Freundin von mir auf offener
Straße angegriffen wurden, holte uns mein Vater nach Deutschland.
Hier wurde ich in die 9. Klasse eingeschult. Ich wollte möglichst
schnell Deutsch lernen, um am Leben hier teil zu nehmen. Außerdem
wurden Menschen mit Deutschkenntnissen gebraucht, da sehr viele
Menschen nach dem Putsch wegen politischer Verfolgung die Türkei
verlassen mussten und in Deutschland um Asyl suchten.
lch knüpfte Kontakte zu unterschiedlichen demokratischen, politischen
Gruppen, welche sich überwiegend in den Themenbereichen wie, Frauen,
Flüchtlinge, Anti-Faschismus, die Situation der Türkei, Arbeiterrechte,
Rassismus etc.. einbrachten. Ln vielen Städten im NRW habe ich mit
vielen Menschen unterschiedlicher Nationalität zusammen gearbeitet,
vielen habe ich bei ihren Belangen geholfen. Alle diese Menschen kennen
mich noch heute.
Jedes Mal, wenn ich in der Türkei war, habe ich als erstes meine
inhaftierten Angehörigen besucht. Es war sehr wichtig für sie, da die
Besucher ihre Augen und Hoffnungen außerhalb der Gefängnismauern waren.
lhre Haftbedingungen waren unerträglich und menschenunwürdig. Sie
wurden systematisch vernichtet. Aufgrund dieser Umstände wurde im
September 1986 TAYAD gegründet. Die Menschen, die TAYAD gründeten,
waren sämtlich Familienangehörige, Väter, Mütter, der politischen
Gefangenen. Sie wollten die Stimmen ihrer Söhne und Töchter nach
Draußen tragen, wollten verhindern, dass man sie vergießt, was
ausdrücklich gewollt war. Übersetzt steht die Abkürzung für Hilfsverein
der Familien und Angehörigen der Gefangenen und Verurteilten in der
Türkei.
Aus der Zeit meiner Gefängnisbesuche kannte ich fast alle Gründer von
TAYAD. Mustafa Eryüksel, Mesude Demirel, Nilüfer Alcan und Kezban
Bektas, die aufgrund ihres Engagements und ihres Alters von vielen
Menschen als „Ana“, Mutter, genannt wird, gehörten dazu. Ich habe ihre
wichtige und richtige Arbeit immer mit Interesse und Dankbarkeit
verfolgt und großen Respekt vor diesen Menschen. Wenn sie in
Deutschland waren, um über die Situation der gefangenen Söhne und
Töchter zu erzählen, war ich und bin ich heute noch bereit, ihnen
behilflich zu sein. Einige von diesen Menschen wie, Mustafa Eryüksel,
Mesude Demirel, Nilüfer Alcan, Kezban Bektas, haben bei mir
übernachtet. Meine Tür stand und steht immer für sie offen.
Meinen Mann habe ich in Deutschland kennen gelernt. Wir sind seit 1992
zusammen und haben 2 Töchter. Auch mein Mann wurde wegen seiner
politischen Haltung und Ansichten nach dem Militärputsch 1980
eingesperrt und inhaftiert. Das Verfahren gegen ihn wurde erst nach 30
Jahren abgeschlossen.
Wir betreiben gemeinsam ein Kiosk in Wuppertal und leben in unserer
gemeinsamen Wohnung, Adresse bekannt, auch in Wuppertal. Auch in
Wuppertal habe ich mein politisches Engagement mit unterschiedlichsten
Personen, Gruppen, Organisationen und Parteien fortgeführt. Viele diese
Aktivitäten werden als Vorwurf in der Anklageschrift gegen mich
aufgeführt. Ich werde dazu in einer weiteren Erklärung noch genauer
eingehen.
Latife Cenan Adigüzel